Yogaścittavṛttinirodhaḥ
Yoga, das ist das kontrollierte zur Ruhe bringen der geistigen Aktivität
Übersetzt bedeutet die Sutra die aus vier Worten besteht: Yoga – Citta – Vritti – Nirodaha, so viel wie „Yoga, das ist das kontrollierte zur Ruhe bringen der geistigen Aktivität“.
Ein Wort der Warnung gleich zu Beginn.. diese Sutra ist die zumindest meiner Meinung nach wichtigste der 196 und deshalb ist die folgende Erklärung und der Kommentar auch länger als bei (allen) anderen.
Man kann diese Sutra auf viele Ebenen verstehen und je nach Zugang und Verständnistiefe interpretieren.
Zuerst einmal klären wir wieso diese Sutra so weit am Anfang steht. Wie schon in der ersten Sutra erwähnt, drängt sich der Eindruck auf, dass Patanjali uns die Essenz und das Wesentlichste des Wissens so schnell wie möglich vermitteln will. Als würden wir in einem brennenden Haus sitzen während wir lesen und jede Sekunde, jede Zeile zählt. Hier in dieser zweiten Sutra finden wir eine Erklärung was Yoga nach Patanjali bedeutet und wie es definiert ist. Ist Yoga nach Patanjali eine Religion, eine spirituelle Praxis, eine Philosophie, eine Art Gymnastik? – Es ist das Kontrollieren des Geistes um die geistige Aktivität zur Ruhe zu bringen. Alles andere ist, was daraus und darum gemacht wird.
Nähern wir uns dem ersten Wort der Sutra, „Yoga“.
Yoga ist als „konstruktivistische“ Philosophie bekannt. – Siehe Konstruktivismus in Wikipedia
Das bedeutet so viel wie das wir (zumindest dem Konstruktivismus folgend) die Welt in der wir leben mit unserem Geist erschaffen. Es gibt – zumindest für jede Einzelne von uns – keinen Unterschied zwischen der „Realität“ und unserer Vorstellungswelt, weil unsere Vorstellungswelt die Realität ist. Wenn ich beispielsweise die Farbe „grün“ nicht sehen kann und nie sehen konnte, dann gibt es auch nichts „Grünes“. Die Yoga-Philosophie lehrt, dass die „wahre Realität“ wesentlich mehr ist als unsere Wahrnehmung und damit auch Vorstellung zu fassen vermag. Das haben mehrere östliche Philosophien und Denkweisen gemeinsam. „Das Tao über das man sprechen kann ist nicht das Tao“, lehrt zum Beispiel der Taoismus.
Wir erschaffen unsere Welt, unsere Vorstellungwelt in der wir leben, durch unsere Sinneseindrücke. Wir sind somit auf jene Bausteine beschränkt, wenn wir unsere Welt bauen, die unsere Sinne uns liefern können. Wir wissen beispielsweise, dass es eine Infrarotstrahlung gibt. Es gibt auch Ultraschall und Mikrowellen. Wir können diese nutzen, aber nicht direkt wahrnehmen. Wir wissen auch, dass es mehr als drei Dimensionen gibt und das etwa die Zeit wie wir sie als Menschen wahrnehmen von anderer Natur ist als wir sie wahrnehmen. – Es gibt Überlegungen ob die Raumzeit die vierte Dimension ist oder vielleicht eine emergente Eigenschaft der Gravitation, aber um die Zeit geht es gerade nicht. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir als Menschen nur unsere Sinne haben um etwas wahrzunehmen, im Innen wie im Außen, und durch diese Eindrücke unsere Welt bauen in der wir leben, jede für sich! Wir sind an eine dreidimensionale Welt gebunden, obwohl wir wissen, dass diese drei Dimensionen nicht die ganze Realität sind, können aber auch nicht ausbrechen, uns nicht herausdenken, weil unsere Wahrnehmung auf eine dreidimensionale Welt beschränkt ist und somit auch unser Geist.
Wir können uns nicht vorstellen – und somit nicht erleben – was wir nicht wahrnehmen können und wir können nur wahrnehmen was unsere Sinne erfassen können. Zu glauben, dass es nur gibt was unsere Sinne erfassen können wäre töricht, weil wir dies widerlegen können. Was können wir also tun?
Wenn wir unseren Geist zur Ruhe bringen, bringen wir auch unsere Sinneswahrnehmung zur Ruhe und unsere Emotionen die ihn bewegen. Wir bringen unsere Gedanken, Wünsche, Sorgen, Ängste, einfach alle Vorgänge zur Ruhe, aber unsere Aufmerksamkeit nicht. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit auf das einzige „Objekt“ das noch da ist: auf unser Selbst, auf das, was beobachtet und aufmerksam ist. Dies ist nur dann wahrnehmbar, wenn es völlig still ist.
Ich greife damit der dritten Sutra vor. Wieso das (gezielte und kontrollierte) zur Ruhe bringen der geistigen Aktivität gut sein soll und wieso das wichtig ist, erfahren wir dort. Darum geht es im Yoga, das eigene Selbst, das hinter den Gedanken und der Welt der Sinneswahrnehmung verborgen ist, wahrzunehmen. So wie der Atem das Feinstofflichste ist, das wir kontrollieren können, und in Relation mit unseren Gedanken etwas sehr „Handfestes“, so ist unsere pure und reine Aufmerksamkeit ohne Inhalt das Feinste, das wir wahrnehmen können und gleichzeitig der am weitesten in die feststoffliche Welt hineinragende Teil unseres wahren Selbst. Alles weiter außerhalb von uns ist Teil unserer Sinneswahrnehmung. Das reine Gewahrsein ist das einzige im gesamten Universum das in unsere Welt hineinragt, das wir zwar nur unter den schwersten Bedingungen fassen können, aber das wir eben gerade noch fassen können, das Tor zum Verständnis unserer eigenen Natur, unseres Selbst und damit das Tor zum Verständnis des Universums, weil alles andere außerhalb ebenfalls von innen kommt..
Das eigene Selbst ist deshalb so wichtig, weil, wenn der konstruktivistische Ansatz stimmt, wir nichts anderes erfahren können als Eindrücke unserer eigenen Sinne und dieses reine Beobachten das einzige ist, das uns als Tor dienen kann zu einem tieferen Verständnis von uns selbst, von der „Realität“ außerhalb unserer eigenen Sinne.
Ich möchte das noch einmal mit einem Beispiel verdeutlichen, dadurch wird vielleicht auch klarer was im Sinne von Yoga mit „Illusion“ gemeint ist. Auf das Wort „Illusion“ trifft man im Yoga-Kontext häufig wenn von „Realität“ die Rede ist. Die Zeit ist eine Illusion, die Realität ist eine Illusion, der Tod ist „nur“ eine Illusion… das sind Aussagen die man oft hört und bei vielen wird das übersetzt als „Wenn es eine Illusion ist, dann ist es nicht relevant“. – Das ist allerdings ein Trugschluss.
Ich möchte das am Beispiel von „Farben“ illustrieren. Wir machen morgens die Augen auf und sehen um uns herum unsere gewohnte Welt, unsere Realität, von der wir denken, dass sie „ist“. Wir sehen beispielsweise einen blauen Himmel und grünes Gras. Wir denken der Himmel wäre blau, das Gras wäre grün und der Holz-Tisch bei dem wir sitzen braun. Wir wissen allerdings, dass nichts eine Farbe „hat“. Eine Farbe entsteht in unserem Kopf, weil Lichtquanten auf unsere Netzhaut treffen und abhängig von der Frequenz des eingehenden Lichts interpretiert das unser Gehirn als „Farbe“. Farbe existiert subjektiv gesehen nicht, sie ist ein Produkt dessen, wie unser Gehirn Information verarbeitet und von vielen Variablen abhängig. Wenn wir beispielsweise wie Feldermäuse einen Sonar-Sinn hätten, dann wäre unser Ästhetik-Gefühl sicher auch ein anderes, weil wir Objekte in unserer Nähe in ihrer gesamten dreidimensionalität erfassen könnten ohne uns dies vorstellen zu müssen. Wir würden jede Skulptur in unserer Nähe in ihrer ganzen Form wahrnehmen, ohne sie in die Hand nehmen und herumdrehen zu müssen. Das hätte sicher eine massive Auswirkung wie wir zB dekorieren und wie sich Räume für uns „anfühlen“ und welche emotionale Wirkung sie auf uns haben. – So wie Farben. Wir haben nun mal eine Möglichkeit Lichtfrequenzen als Farben wahrzunehmen und diese Wahrnehmung verursacht Emotionen, wir haben Präferenzen und Farben sind für uns wichtig. Sie sind in unserer Welt und für uns absolut real. Man kann nicht sagen, dass es keine Farben gibt, man kann nur sagen, dass es sie objektiv nicht gibt. Der Konstruktivismus kommt hier uns Spiel und sagt, nichts gibt es objektiv, weil Existenz Subjektivität voraussetzt. Oder die Kopenhagen-Interpretation der Quantenphysik die vereinfacht sagt, dass es einen Beobachter braucht damit etwas existiert. Farben sind für uns also real und das ist die einzige Realität, die wir erfahren können. Farben sind gleichzeitig eine Illusion, weil sie ihrer Natur nach anders sind als wir sie wahrnehmen.
Mein „Ich“ (das von meinem Ego erzeugte) exisitert nur in der Geschichte die mein Geist (Chitta), mein Gehirn, sich selbst erzählt.
Das nächste Wort in der Sutra lautet: Chitta.
„Chitta“ bedeutet soviel wie unser gesamter Verstand, unser „Geist“, inklusive unseren Gefühlen, umgangsprachlich könnte man es umschreiben mit: allem, was in unserem Kopf vorgeht.
In der yogischen Vorstellung ist Chitta eines von vier „Antarkarana“ – Aspekte des Geistes. Der erste Aspekt ist „Manas“, der Sinneswahrnehmung, die dafür verantwortlich ist die ständig auf uns einwirkenden Sinneseindrücke zu verarbeiten, kategorisieren und auch zu validieren.
Chitta verarbeitet die Sinneseindrücke und „speichert“ sie und verwandelt sie Samskaras – sie sind Erinnerungen, Eindrücke, Impressionen, Gewohnheiten, Charakterzüge.. Das Aufnehmen und Verarbeiten der Sinneseindrücke ist ein ständiger sich selbst verstärkender Kreislauf. Man kann den Menschen selbst als sich selbst verstärkenden Lernprozess verstehen, der Charakter ist das Resultat aus diesem. – Dies entsteht durch die Struktur der Samskaras, durch Karma. Chitta sorgt dafür, dass wir aus unseren Sinneseindrücken eine für uns „sinnvolle“ Welt bauen.
Ahamkara ist unser Ego, eine ganz wesentlicher Aspekt, der dafür verantwortlich ist, dass wir uns als uns selbst wahrnehmen, wissen wer wir sind, wo wir aufhören, was wir wollen, etc. Das Ego hält unsere Persönlichkeit zusammen und ist essentiell für unser Existieren in der Welt um uns herum. Gleichzeitig gilt das Ego auch als großer Antagonist jeder spirituellen Praxis, weil das Ego kennt keine höhere Instanz als sich selbst und wenn man sich auf das Ego verlässt, ersetzt das Ego das „höhere Selbst“ und das Streben nach materieller Sicherheit und Überleben wird das höchste Lebensziel.
Buddhi ist das letzte Antakarana, man kann es auch „Weisheit“ nennen, die Fähigkeit zwischen wahr und falsch zu und das wahre Selbst von den Projektionen des Geistes zu unterscheiden. In Buddhi passiert das Treffen von Entscheidungen durch das Projizieren einer möglichen Zukunft aufgrund von eigenen Entscheidungen. – Diese müssen nicht immer gut oder richtig sein, Buddhi greift dafür auf die eigenen Erinnerungen und Erfahrungen zu.
Als kleiner Exkurs, Buddhi kommt besondere Bedeutung zu und wird öfter auch als „höchste Instanz“ des Geistes angesehen, weil es gibt zwei Bewusstseins-Modi: den „gewöhnlichen Modus“ in dem wir mit der „Außenwelt“ – die eigentlich gar nichts von außen hat, weil sie ist die Welt unserer Sinneseindrücke – völlig assoziiert sind und den anderen Modus, wo wir die Außenwelt zwar wahrnehmen, uns ihrer Beschaffenheit aber zumindest gewahr sind und wenn wir es auch nicht erfahren, so doch zumindest darum wissen, dass unser wahres Ich nicht die Summe unsere Gedanken und Erfahrungen ist. Diese Unterscheidung möglich macht Buddhi, das Ego – Ahamkara – erschafft das „gewöhnliche“ Bewusstsein.
Ein kleines Wort der Warnung zur „Gültigkeit“ dieses Textes – ich bemühe mich so authentisch zu schreiben wie ich kann und mein gesamtes Wissen einfließen zu lassen, gerade diesen Abschnitt habe ich aber zum einen sehr gekürzt um nur die nötige Einordnung von Chitta zu ermöglichen, zum anderen gibt es auch innerhalb des yogischen Verständnisses sehr viele verschiedene teils widersprechende Ansichten zu den Antakaranas. Manche sehen Chitta als Sammelinstanz der anderen, andere sehen Buddhi als höchste Instanz, andere kennen noch zB Viveka als weiteren Aspekt. Das führt an dieser Stelle zu weit, ich möchte nur explizit hervorheben, dass es hierzu zum einen noch sehr viele andere Ansichten gibt und der Text die Aspekte massiv vereinfacht darstellt.
Das dritte Wort der Sutra lautet „Vritti“
Vritti für sich alleine heißt so viel wie eine Verwirbelung, Veränderung. Chittas-Vritti sind die Bewegungen, Verwirblungen, Ablenkungen, … Vorgänge des Geistes.
Was die Vorgänge des Geistes sind, habe ich unter Chitta schon ausgeführt. Patanjali, der Autor der Yoga Sutras hat das Wort Verwirbelung vermutlich deshalb gewählt, um herauszustellen, dass die Beschäftigung mit der Sinneswelt von der dahinterliegenden Wahrheit, dem ständig beobachtenden reinen Bewußtsein, ablenkt.
Nirodaha ist das vierte und letzte Wort der Sutra
Yogas chitta-vritti nirodha – Yoga ist, wenn die chitta-vrittis kontrolliert still werden.. die „Chitta-vrittis“ sind die „Regungen oder Aktivitäten“ des Geistes. Man kann sich unseren Geist wie einen Springbrunnen vorstellen. Von außen betrachtet fließt der Springbrunnen in einem stetigen Strom. Wenn man ganz genau hinsieht, dann spritzt eine Pumpe in schneller Folge viele Wassertropfen durch eine kleine Öffnung welche den Brunnen als fließend erscheinen lassen. So ist es mit den Vorgängen in unserem Geist. Unser Geist vermag nur eine Sache gleichzeitig zu „halten“. Der Wechsel geht so rasch, dass es uns nicht auffällt, dass unser Bewußtsein gar keine Folge von Eindrücken ist, sondern als „Strom“ erscheint. Nirodaha heißt so viel wie „zügeln“, kontrollieren, zur Ruhe bringen. Das geschieht beispielsweise durch Japa-Meditation, wo man einen einzigen Gedanken wieder und wieder wiederholt bis dem Geist so langweilig wird, dass er, nach unzähligen Versuchen auszubrechen, irgendwann aufgibt und langsamer wird. Dann werden die Chitta-Vrittis langsamer und „wahrnehmbarer“.
In der nächsten Sutra beschäftigen wir uns damit wieso das das Ziel vom Yoga ist und was es einem Yoga bringen soll das zu erreichen.