abhyāsa-vairāgya-ābhyāṁ tan-nirodhaḥ
Praxis und Nicht-Anhaftung sind die Methoden um die Modifikationen des Geistes zu stoppen.
Bisher haben wir in den Sutras gehört was Yoga ist, wie die Wellen des Geistes, oder auch „Modifikationen“ wirken und beschaffen sind und jetzt lernen wir wie man sie zur Ruhe bringen kann um das Ziel zu erreichen.
Diese Yoga Sutra gilt als sehr bedeutend, weil sie den Yoga-Praktizierenden einen Yogaweg mitgibt, nämlich „Praktiziere und übe Nicht-Anhaftung“. Es gibt insgesamt drei Yogawege die in den Yogasutren des Patanjali genannt sind und dies ist der zweite, er betont die Bedeutung von Übung und Nicht-Anhaftung als Schlüssel zur Befreiung des Geistes und zur Erlangung der Erleuchtung.
Was unter dem Üben und der Nicht-Anhaftung genau verstanden wird, ist Thema der nächsten beiden Sutras. Aber generell ist mit „Üben“ das Ausführen einer spirituellen Praxis gemeint und das Ausbilden von Disziplin. Nicht-Anhaftung bedeutet den Geist frei zu machen von den stetigen äußeren Eindrücken, nicht um Indifferenz zu erreichen gegenüber allem, sondern eine echte Wahl zu haben wie wir reagieren wollen.
Diese Lehre kommt auch in der Bhagavad Gita vor, in Kapitel 6, Vers 35 sagt Arjuna sinngemäß zu Krishna
Oh, Sohn von Kunti mit den mächtigen Armen, was du sagst, das stimmt, der Geist ist wahrhaftig schwer zu kontrollieren, aber mit Praxis und Nicht-Anhaftung ist es möglich.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals Viktor Frankl zitieren, der in einem seiner berühmtesten Zitate genau das formuliert hat, worum es hier geht und was für mich den Kern von Yoga erklärt.
Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt die Macht unserer Wahl. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit. – Viktor Frankl
Ein wichtiger Aspekt der Praxis ist die Schaffung von Nicht-Anhaftung, die durch klare, gute und rationale Gedanken erreicht werden kann. Diese Praxis ist notwendig, weil jede Handlung wie eine Welle auf der Oberfläche eines Sees ist, die sich ausbreitet und Eindrücke auf dem Geist hinterlässt. Diese Eindrücke können sich ansammeln und zu Gewohnheiten werden, die das Wesen einer Person bestimmen. Jeder Mensch kann seine Gewohnheiten ändern, indem er neue und bessere Gewohnheiten entwickelt, um die schlechten zu kontrollieren. Die Schaffung von guten Gewohnheiten, passiert aber nicht durch gute Vorsätze oder in der Yogastunde, sondern nur im Hier und Jetzt, in jedem Moment bevor wir handeln.
Die tiefste Schicht des Geistes ist das Verlangen, und Nicht-Anhaftung und innere Anstrengung, stetige Praxis, sind notwendig, um das Verlangen zu kontrollieren.
Die Praxis der Nicht-Anhaftung bedeutet jedoch nicht, dass man das Leben nicht genießen sollte. Im Gegenteil, man soll das Leben genießen, aber ohne von den äußeren Reizen der Sinne abhängig zu sein. Man sollte in der Lage sein, alleine glücklich zu sein, ohne von jemand oder etwas anderem abhängig zu sein.
Im hinduistischen Kulturkreis gelten die zwei Dinge, Disziplin und Loslassen, als die zwei wesentlichen Aufgaben die ein Mensch lernen muss: Disziplin in der ersten Lebenshälfte, Loslassen in der zweiten.