Yoga Sutra 1.13. tatra sthitau yatno’bhyāsaḥ
(Praktizieren bedeutet:) Bemühe dich einen internen Fokus stetig zu bewahren.
Yoga Sutra. 1.14. sa tu dīrghakāla nairantarya satkāra-ādara-āsevito dṛḍhabhūmiḥ
Vollkommenheit in der Praxis entsteht, wenn man mit Aufrichtigkeit und Ehrfurcht über einen langen Zeitraum hinweg ohne Unterbrechung praktiziert.
Die Praxis, Abhyasa, soll ein Teil des täglichen Lebens sein und nicht etwas das zum Beispiel nur einmal die Woche auf der Yogamatte passiert.
Was bedeutet der innere Fokus? Zum einen soll man am Leben teil nehmen, erfahren, spüren, etc. – zum anderen aber den inneren Fokus halten, was die eigene wahre Natur ist und das sich dem gewahr sein und bleiben, dass wir ständig Sinneseindrücke aufnehmen, verarbeiten und darauf reagieren. Dieses Gewahrsein über die inneren Abläufe schafft eine Distanz zwischen den emotionalen Gefühlen in uns und führt dazu, dass wir unsere Reaktion wählen können anstatt instinktiv und emotional zu reagieren. So können wir bestimmen wer wir sein wollen.
In der Yogaphilosophie gibt es das Prinzip der drei Gunas. Darunter versteht man subtile Energien, aus denen sprichwörtlich das Universum gewoben ist. Die drei Gunas formen die fünf Elemente und die wiederum formen die Materie. Die drei Gunas weben auch unsere Gedanken und Emotionen. Man unterscheidet: Sattva (Güte, Ruhe, Harmonie), Rajas (Leidenschaft, Aktivität, Bewegung) und Tamas (Unwissenheit, Trägheit, Faulheit).
Von welchen Gunas lasse ich mich in meinen Handlungen leiten? Was ist die dahinterliegende Motivation? Diese Frage kann nur ich selbst beantworten. Ich kann eine „gute Tat“ tun und zum Beispiel etwas an Bedürftige spenden, mein Leitmotiv ist aber vielleicht die Faulheit, weil ich die Spende nicht wegschmeißen will um mir Aufwand zu sparen. Das kann auch umgekehrt der Fall sein, wenn ich beispielsweise jemanden von der Straße stoße um zu verhindern, dass die Person einen Unfall hat. Von außen betrachtet kann man die Motivation nicht erkennen, aber die handelnde Person hat immer einen Gedanken oder eine Emotion die sie erst ins Handeln bringt und wenn wir uns dieser gewahr sind, können wir sie beeinflussen und unserem Geist sagen: „Ja, dieser Motivation möchte ich folgen“, oder „Nein, dieser Motivation möchte ich nicht folgen“. Der Ausgang unserer Handlungen ist ungewiss und außerhalb unserer Kontrolle, wir können nur unser bestmögliches Tun, aber die Motivation und die Emotionen aus denen wir heraus handeln, die liegen im Bereich unserer Verantwortung und Kontrolle.
Wir lernen stetig durch Feedback. Eine Emotion (= in Bewegung versetzen) löst aus, dass wir etwas in der von uns wahrgenommenen Welt verändern wollen. Wir setzen eine Aktion und erhalten eine Rückmeldung über deren Erfolg oder Misserfolg. Bei Erfolg entsteht daraus eine Strategie und durch das wieder und wieder anwenden, eine Gewohnheit. Gewohnheiten werden zum Teil unserer Persönlichkeit. Wenn wir eine Gewohnheit ändern wollen, weil wir erkennen, dass die dahinterliegende Motivation aus einer Richtung kommt in die wir nicht wollen oder die Gewohnheit schädlich für uns ist oder auch, wenn sie nicht mehr funktioniert, dann brauchen wir eine neue Strategie die besser funktioniert. Es nützt beispielsweise wenig jemanden der gewohnt ist sich mit Gewalt durchzusetzen zu sagen, dass Gewalt negativ ist. – Selbst wenn die Person dies selbst erkennt, ist sie eine Gefangene der eigenen Gewohnheiten. Die Person muss mit einem neuen Verhalten das alte ersetzen und dieses neue muss „besser“ sein als das alte. Um zu erkennen was „besser“ ist, muss man in der Tiefe verstehen, welche Bedürfnisse das alte Verhalten wirklich bedient hat. Und dann braucht es Zeit bis aus dem neuen Verhalten eine Strategie wird, ein automatisches Verhalten und am Ende ein Teil der Persönlichkeit.
Der innere Fokus erlaubt auch Wissen über sich selbst zu sammeln. Man wird sich gewahr wovon man sich angezogen fühlt und wovon abgestoßen. Man kann darüber nachdenken und gegebenenfalls Lösungen finden das zu ändern. Wir brauchen den Gedanken nicht akzeptieren: „Ich bin halt so“. Das ist nicht richtig, als wir auf die Welt kamen, waren wir ebenfalls „nicht so“ und selbst wenn, dann liegt es an uns das zu ändern, wir können das tun.
Diese Art von Praxis bedeutet eine konzertierte und beharrliche Anstrengung, eine alte Gewohnheit zu ändern oder eine neue zu entwickeln. In allen Bereichen menschlichen Bemühens ist Übung der Schlüssel, der die Tür zu Meisterschaft öffnet. Jede Fertigkeit entsteht allein durch Übung. Auch den hartnäckigen und unruhigen Geist durch Praxis dazu zu bringen den Fokus auf das Göttliche zu legen, braucht Praxis und dies ist die Yogapraxis, denn das Göttliche ruht in allen Dingen, auch in uns und dort können wir es entdecken.
Die Praxis von Abhyāsa bedeutet den Fokus des Geistes auf das Göttliche zu richten, mit stetiger, absoluter Hingabe.
Den Fokus des Geistes von der Welt zu nehmen, das ist Vairāgya, was in der nächsten Sutra erläutert wird.