Sutra I. 15. dṛṣṭa-anuśravika-viṣaya-vitṛṣṇasya vaśīkāra-saṁjṇā vairāgyam
Kein Verlangen nach den Sinnesobjekten zu haben ist Leidenschaftslosigkeit oder Nicht-Anhaftung. – Dies führt zur Meisterschaft über das eigene Selbst, zur Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung.
Sutra I. 16. tatparaṁ puruṣa-khyāteḥ guṇa-vaitṛṣṇyam
Die höchste Form der Leidenschaftslosigkeit (Nicht-Anhaftung) ist dann erreicht, wenn die Praktizierende sich von allen Formen des Durstes löst, nach allen Naturkräften, dann führt sie zur Selbstrealisation.
Diese beiden Sutras beschäftigen sich mit der sogenannten „Nicht-Anhaftung“, ein Begriff der in der deutschen Sprache sehr holprig klingt, auf englisch „dispassion“, etwas klarer wirkt.
Unter der Prämisse, dass die materielle Welt unserer Sinneswahrnehmung ein Konstrukt unserer Sinne und Interpretation unseres Geistes ist, folgt logischerweise, dass man jenen Konstrukten des Geistes und der Sinneseindrücke nicht so viel Bedeutung zuwenden sollte, sondern sich besser auf das Innere fokussiert.
Das Thema führt zu viel Verwirrung und Missverständnissen. Was es NICHTheißt: Man soll am Leben nicht teilnehmen und Emotionen keinen Wert beimessen! Dies interpretieren allerdings nicht alle Yogis so. Der Yogi der einsam in der Höhle in den Himalayas lebt, von der Welt abgekehrt ist ein wiederkehrendes Ideal.
Die Nicht-Anhaftung ist als Praxis ein stufenweiser Prozess. Am Beginn steht die Bereitschaft sich damit beschäftigen zu wollen und darüber zu reflektieren wieso man sich zu etwas hingezogen fühlt oder von etwas abgestoßen. Der zweite Schritt ist dann, diese Neigungen loszulassen und ihnen gegenüber gleichgültiger zu werden indem man hinterfragt ob man ihnen wirklich nachgehen möchte, wer man dadurch wird wenn man dies tut und ob dies dem entspricht, wer man werden möchte. Der dritte Schritt ist die Sinnesaktivität selbst zu kontrollieren, wie einen Filter, sodass sie nicht mehr unvermittelt einwirken kann und zuletzt, in der absoluten Ausprägung, keinerlei Wünsche oder Ängste mehr zu haben.
Diese Sutra löst meist eine von zwei möglichen „Fallen“ unseres Geistes aus. – Entweder man interpretiert sie in die Richtung, dass man sich von „der Welt“ abwenden soll und findet das gut, weil das Leben schwierig ist und eine Flucht davon reizvoll erscheint, oder, der Geist bäumt sich gegen die Vorstellung auf loszulassen was er mag. – Ein Leben ohne xy ist langweilig! Und auch das ist eine Falle, weil es geht nicht darum, dass man sich in Entbehrung zwingt, sondern vielmehr durch Reflexion und Praxis und Erkenntnis diese „Anhaftungen“ von uns abfallen.
Es macht das Leben nicht langweilig, sondern wertvoll, sinnerfüllt und auf eine sanfte Art glückselig. – Sofern man diese Anhaftung richtig betreibt. Erzwingt man sie, macht sie bitter.
Die Sutra 16 geht nocheinmal auf die „Gunas“ ein und betont damit, dass es bei der Leidenschaftslosigkeit nicht nur um die negativen Tendenzen geht, Angst, Aggression, etc. sondern um alles Streben, auch um das Streben nach Glück, Frieden und Erleuchtung. Und das Ziel, die vollkommene Leidenschaftslosigkeit, führt zur Realisierung des Selbst, zu Samadhi oder wie wir sagen „Erleuchtung“.
Ein kleiner Vorgriff zum Thema Erleuchtung: In den Yoga Sutras sind immer wieder Praktiken erwähnt die zur „Erleuchtung“ / Realisierung des wahren Selbst / Samadhi führen und wir können uns schwer vorstellen was diese Erleuchtung sein soll. Letztlich ist es ein völlig anderer Bewusstseinszustand wie ihn wir in unserem Alltag erleben. Wenn man all diese Textstellen zusammen nimmt, dann bekommt man ein ganz gutes Bild davon wie jemand sein muss, der „erleuchtet“ ist. Die Leidenschaftslosigkeit ist ein Bestandteil davon, dazu gehört letzten Endes auch, nicht nach Erleuchtung zu streben.