Atha yogānuśāsanam
Jetzt beginnt das Studium des Yoga
Patanjali beginnt die Yoga Sutras, die aus 196 Versen besteht, mit den Worten „Jetzt beginnt das Studium des Yoga“.
Eine mögliche Bedeutung ist, dass dieser Vers einfach bedeutet: „Es geht los“. Wenn man aber einen Stoff wie die gesamte Weisheit des Yoga in 196 Verse verdichten will und mit möglichst wenig Zeilen möglichst viel transportieren will, leistet man es sich dann, den ersten Vers völlig bedeutungslos zu lassen und begnügt sich mit 195? Das ist unwahrscheinlich.
Eine weitere Möglichkeit ist, dass Patanjali aus Respekt vor der Tradition diese Einleitung wählte. Kapila, der Samkhya Philosoph beginnt beispielsweise genauso. Aber wieso ist diese Form und Formulierung der Einleitung zur Tradition geworden?
Eine wesentliche Lehre im Yoga ist, dass es keine „Zeit“ gibt außer dem Jetzt. Vielleicht ist diese Einleitung also nicht belangslos, sondern ein Hinweis darauf. Sieht man sich die Struktur des Textes und besonders der ersten Verse an, dann wird klar, dass Patanjali versucht die Weisheit des Yoga nicht nur umfassend, sondern vor allem so schnell und effizient wie möglich zu vermitteln. In den ersten drei Versen sind bereits alle anderen zusammengefasst. Ich greife hier etwas vorweg, aber er unternimmt drei Versuche den „idealen“ Yogaweg zu beschreiben, jedes Mal ein wenig anders und elaborierter. Eine Schülerin, die das verdichtete und grob beschriebene Konzept versteht, braucht nicht mehr als die ersten drei Verse zu lesen, eine Schülerin die es nicht tut, findet eine längere Erklärung später und eine noch ausführlichere noch einmal im Text. Umso entwickelter die Schülerin, desto weniger ausführlich muss die Beschreibung ausfallen. Vielleicht versteckt sich also in diesem einen ersten Vers bereits die gesamte Yogaweisheit verdichtet und verborgen.
„Atha“ bedeutet „Jetzt“ und beschreibt damit die einzige „Zeit“ in der Erfahrung passiert. Wir kommen später in den Yoga Sutras noch einmal genauer darauf zu sprechen. Aber die Vergangenheit ist die Erinnerung an Erfahrung und damit nicht mehr jener Moment der tatsächlich passiert ist sondern nur noch eine Rekonstruktion und Reduktion unseres Geistes. Die Zukunft ist hingegen eine Projektion aus der „Vergangenheit“, also letzten Endes eine Erwartung unseres Geistes. Beide „Zeiten“ sind eine Imagination unseres Geistes, nur im Jetzt passiert Erfahrung, sofern man das Jetzt wahrnimmt, zulässt und präsent ist.
Illusion bedeutet, dass etwas fundamental anderer Natur ist als es scheint, nicht, dass es nicht existiert. Vergangenheit und Zukunft sind Konstrukte unseres Geistes und als solches real, das was wir denken was passiert ist, ist aber nicht tatsächlich wirklich was passiert ist oder passieren wird, ist nicht die Erfahrung des Selbst der Realität sondern die Fantasie einer Erfahrung.
Ich empfehle hierzu einen Klassiker der westlichen spirituellen Literatur, „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ von Eckhart Tolle. Er beschäftigt sich eingehend mit der Thematik und den weitreichenden Folgen des Fokus auf Vergangenheit und Zukunft.
Zudem ist „Jetzt“ ein Weckruf, dass etwas Wesentliches im Gang ist, es läutet einen Übergang ein von einer Zeit wo wir noch nichts über Yoga wussten hin zu einer Zeit wo wir das Wissen von Yoga in unserem Geist tragen werden.
„Anusasanam“ bedeutet: „Mit dessen Hilfe jemand instruiert wird“.
(Im) Jetzt beginnt die Instruktion ins Yoga.